Der neue Bürgermeister von Limburg wird
Marius Hahn heißen. Nach einem Wahlkampf, der einige Überraschungen bot, haben
sich die Bürger für einen Wechsel in den Machtverhältnissen entschieden.
Es scheint an der Zeit, die
vergangenen Monate noch einmal etwas genauer zu betrachten.
Michael Stanke
Fassungslos stand, wenn man
Berichten in der NNP Glauben schenken darf, der CDU-Kandidat am Sonntag, den
14. Juni, gegen 19:30 Uhr vor dem Ergebnis der Wahl.
Nicht weniger fassungslos macht den
Beobachter seine erste Analyse. Wiederum eine wahrheitsgemäße Berichterstattung
vorausgesetzt, die man bei dem komplizierten Innenverhältnis
Was-Stanke-sagt-und-was-die-NNP-schreibt ja nicht so ohne weiteres annehmen
darf, äußerte sich der Unterlegene so: "Vielleicht haben wir die Erfolge
unserer Politik nicht offensiv genug vertreten."
Dies zeigt für mich nur eins:
Michael Stanke versteht es einfach nicht.
Er hat es schon während seiner
gesamten Wahlkampagne nicht verstanden, doch jetzt, im Augenblick der
Niederlage klammert er sich immer noch an seine völlig verfehlte Strategie und
sieht die Ursache seines kläglichen Scheiterns darin, dass er sie nicht NOCH
sturer verfolgt hat.
Als Amtsinhaber, der sich zu einer
Wiederwahl stellt, hat man es generell einfacher, denn man kann auf erbrachte
Leistungen verweisen und versprechen, diese fortzuführen. Problematisch wird
es, wenn man nicht Verantwortlicher ist und in seinem nachgeordneten Amt keine
maßgebliche Gestaltungshoheit hatte. Dann Vergangenes zu thematisieren, das ein
anderer erreicht hat, während die eigene Leistung war, daneben zu stehen und
zuzuschauen, wirkt nicht sehr überzeugend.
Ganz kritisch wird es jedoch, wenn
es nichts gibt, was man sich anstecken könnte. Die Klientelpolitik des NBM auf
dem Rücken der Bürger, die Alimentation Einzelner und Subvention von
Multimillionären, während gleichzeitig stadteigene Bauten und Infrastruktur
verrotten, angebliche Haushaltskonsolidierung bei paralleler Verschwendung von
Unsummen für dysfunktionale oder nie verwirklichte Irrsinnsprojekte und
Gutachten, ist nichts, mit dem man einen Wahlkampf gewinnen kann.
In einem solchen Fall muss sich ein
Bewerber von seinem Vorgänger entschieden absetzen und abheben. Doch dazu
braucht man etwas, das im Stanke Lager ganz offensichtlich eine ganz große
Unbekannte war: Ein Programm.
Bis auf eine immer wiederkehrende
Aufzählung von Aufgaben, die ein Bürgermeister nun einmal Kraft Jobbeschreibung
zu erledigen hat, kam von Seiten Stankes nichts. Absolut nichts.
Er präsentierte sich den gesamten
Wahlkampf über als jemand, der niemals die Initiative ergreift, sondern
ausschließlich zu reagieren in der Lage ist. Passivität war die Botschaft und
die spiegelte sich in jeder einzelnen Aktion. Bei keiner einzigen seiner
Veranstaltungen präsentierte Stanke auch nur den Embryo einer eigenen Idee,
sondern er „besuchte“ immer nur andere und ließ sich zeigen oder erklären, was
diese taten. In keiner Phase überraschte er seinen Gegner mit Projekten, Ideen
oder Aktionen, sondern er lief ihm stets hinterher.
Verblüffend war es zu beobachten,
wie Michael Stanke den Spuren des Mitbewerbers folgte und über den Greifenberg
wanderte, nachdem Hahn mit Bürgern die Grünanlagen angesehen und Ideen für eine
bessere Gestaltung gesammelt hatte. Eine Woche nach der Hahn-Mannschaft hatte
sein Team Wahlkampf-Polos und kurze Zeit, nachdem der Mitbewerber Hausbesuche
in Ortsteilen begonnen hatte, klingelte auch Michael Stanke an Türen. In einer
abenteuerlichen Dreistigkeit wurden ganze Passagen aus den Hahnkonzepten für
Bürgerthemen übernommen und bereicherten die anfangs dürren Zeilen
„programmatischer“ Natur auf der HP des CDU-Kandidaten. Grotesk war, dass er
oder seine Helfer dabei die implizite Kritik an den aktuellen Zuständen und
Versäumnissen der Vergangenheit gleich mit übernahmen – einer Vergangenheit die
Stanke doch als seine große Leistung herausstellen wollte.
In den öffentlichen Auftritten gab
sich Stanke jovial, umgänglich, freundlich – und immer wieder so unbedarft,
dass es an politischen Selbstmord auf offener Bühne grenzte. Einen Bewerber um
das Amt des Bürgermeisters, der als seine größte Schwäche sein Phlegma nennt,
sieht man wirklich selten. Zu den vertrauensbildenden Maßnahmen gehörte sicher
auch nicht, dass er wiederholt erklärte, man müsse viele Sachen einfach mal
liegen lassen, dann würden sie sich oft von selbst erledigen.
Nichtstun, abwarten und zuschauen,
was andere so leisten – all das als Qualitäten für ein Amt zu präsentieren, das
einen energischen, zielstrebigen und zupackenden Menschen fordert, war sicher
keine Taktik, die einen Wähler überzeugen konnte, dem CDU-Kandidaten die
Führung einer Stadt wie Limburg zu- und anzuvertrauen.
Nun steht Michael Stanke vor den
Trümmern seiner Karriereplanung, die ihn nach seinen eigenen Vorstellungen
irgendwie zwangsläufig und folgerichtig auf den Sessel des Bürgermeisters
bringen sollte, ohne dass von ihm dazu irgendeine besondere Leistung gefordert
würde.
Er kann sich das Ergebnis vom
Sonntag absolut nicht erklären. Dabei versteht er jedoch etwas ganz
Wesentliches nicht.
Michael Stanke hat die
Bürgermeisterwahl nicht verloren.
Marius Hahn hat sie gewonnen.
Marius Hahn
Was er nun zu dem unerwarteten
Ergebnis sage, wollte der am Ende nur noch mäßig verkappte Wahlkämpfer in
Journalistentarnung wissen. Bis zur letzten Sekunde hatte er noch alles
versucht, dem Gegner die größte Publizität zu verschaffen und ihm zu jedem
Thema von Marius Hahn das Wort zu erteilen. Wenige Minuten nach der Schließung
der Wahllokale verbreitete der Mann dann schon Ergebnisse angeblicher
repräsentativer Umfragen, die einen knappen Sieg des Anderen voraussagten – und
nun dies.
Mit einem sehr gequälten Lächeln
musste der subversive Publizist nun dem Mann, den er als Wahlverlierer
ausgemacht hatte, zum Sieg gratulieren, und er stellte seine Frage.
Unerwartet sei das Ergebnis
überhaupt nicht, reagierte Marius Hahn schlagfertig.
Er sei von seinem Wahlsieg
ausgegangen.
Es war die richtige Antwort auf die
letzte Spitze des Gegenübers. Doch ein Blick in das Gesicht des Kandidaten
verriet dem, der die Zeichen zu erkennen vermag, viel mehr. Die Freude und
Begeisterung, die sich erst im Lauf des Abends ihren Weg bahnen sollten, waren
noch nicht angekommen. Dort im großen Sitzungssaal, kurz nach der Bekanntgabe
des Endergebnisses, sah man in den Augen von Marius Hahn einen Moment lang nur
eine Mischung aus tiefer Erschöpfung, Erleichterung und Dankbarkeit.
Was ein knappes halbes Jahr vorher
praktisch niemand für möglich gehalten hatte, war passiert. Die dem Anschein
nach für alle Ewigkeit festbetonierte CDU-Festung Limburg war gefallen und über
dem Rathaus wehte die Flagge mit dem Roten Hahn.
Nach der Nominierung durch eine
Wählergemeinschaft im Januar hatte die Presse seine Kandidatur gemeldet. Danach
verschwand Marius Hahn vollkommen aus der publizierten Öffentlichkeit. Während
sein Gegner mit Amtsbonus und der Unterstützung des gesamten Rathauses einen
Termin nach dem anderen kreiert bekam und wahrnahm, der ihn in Wort und Bild in
die Zeitungen und das Bewusstsein der Bevölkerung brachte, war Marius Hahn
diese Möglichkeit verwehrt. In einer mehr als bemerkenswerten Allianz des
Schweigens ignorierten die eine Bezahl- und die zwei kostenlosen Zeitungen den
zweiten Bewerber um das Amt des Bürgermeisters praktisch vollständig. Ganz
gleich, was er und sein Team veranstalteten, es fand maximal in einer
Zweizeiler-Ankündigung seinen Niederschlag, als Bericht praktisch nie.
Nach dem zweiten Kandidaten um das
Amt des Bürgermeisters befragt, konnten die meisten Wähler nur Antworten dieser
Art geben: „Ja, klar, der Dingsda, na… na der… wie heißt er noch?“.
Marius Hahn kämpfte verzweifelt mit
öffentlichen Auftritten dagegen an, nahm an jedem organisierten Frühjahrsputz
im Stadtgebiet teil und zeigte sich in Warnweste und mit breitem Lächeln bei
der Arbeit, doch der Erfolg war gering. Er erntete in der Öffentlichkeit dafür
kaum mehr als ein Schulterklopfen derer, die sowieso zu seinen Unterstützern
zählten. Die Gegner hatten maximal das verächtliche Achselzucken der sicheren
Sieger.
Das Rennen war im Bewusstsein der
Öffentlichkeit entschieden, bevor es überhaupt begonnen hatte.
Doch dann geschah etwas, das für
mich in der rückblickenden Analyse den Wendepunkt darstellte. Marius Hahn
zeigte zwei Charaktereigenschaften, die für die darauf folgenden Monate jeden
seiner Schritte prägen sollten. Kampfbereitschaft und Lernvermögen. Der Wille,
sich einzugestehen, dass man bei einer Sache nicht weiterkommt und sich
kompetente Hilfe zu holen, ist bekanntlich KEINE Limburger Kardinaltugend.
"Intelligent sind wir selber“ ist die Grundhaltung in der Lahnstadt, die
so viele Chancen in der Vergangenheit und Gegenwart verspielt hat.
Marius Hahn tat etwas, das
gemeinhin als nichtlimburgische Handlung gilt: Er holte sich Hilfe.
Es war dem Kandidaten Hahn offenbar
bewusst geworden, was für eine Aufgabe er da optimistisch in Angriff genommen
hatte. Er wollte eine CDU-Hochburg gegen ein gesamtes Rathaus und gegen eine
vereinigte Presse erobern. Ein unmöglicher Auftrag. Doch er fand einen
Parteigenossen, dem genau das gelungen war.
Marius Hahn lud den Mann ein, der
zwei Jahre zuvor sensationell die Wahl zum Oberbürgermeisters von Wiesbaden
gewonnen hatte. Sven Gerich folgte dem Hilferuf, kam zu einer Podiumsdiskussion
– und nach diesem Abend schaute Marius Hahn nicht ein einziges Mal mehr zurück.
Was folgte, war eine Kampagne, wie
es sie in dieser Perfektion und Intensität wahrscheinlich für eine Stadt dieser
Größe in der Geschichte Deutschlands noch nie gegeben hat.
Bei aller Wertschätzung des
Engagements, des Einsatzes und des guten Willens der Wählerinitiative Marius
Hahn, ich halte es für ausgeschlossen, dass sie für die Systematik, die
Publikationen und vor allem die Dramaturgie des nach dem Gerich-Auftritt
folgenden Wahlkampfes alleine verantwortlich ist. Praktisch alles, was danach
geschah, trägt für mich die Handschrift eines PR-Profis und ich muss gestehen,
dass ich denjenigen beneide, der dahintersteckt. Insbesondere das Timing und
die Fähigkeiten, so viele verschiedene Einzelprojekte parallel zu führen und
jedes von ihnen zur maximal Wirkung zu bringen, rufen bei mir Hochachtung hervor.
Müsste ich diesen Mann oder diese
Frau suchen, ich würde als erstes im Umfeld von Sven Gerich nach ihm/ihr
fahnden. Denn die Parallelen zu dessen Wahlkampf sind unverkennbar, obwohl
dieser natürlich mit einem ganz anderen personellen und vor allem finanziellen
Aufgebot geführt wurde.
Es waren zwei elementare
Ratschläge, die der OB von Wiesbaden Marius Hahn öffentlich mit auf den Weg
mitgab.
Erstens: In die Häuser zu gehen,
mit den Mensch direkt zu sprechen, sich ihre Sorgen und Nöte anzuhören, davon so
viel wie möglich mitzunehmen UND parallel dazu schon Antworten zu suchen und
Lösungen zu entwickeln.
Noch wichtiger war wohl Ratschlag
Nummer zwei: Schau nie, nie, nie, was der Gegner macht.
Marius Hahn folgte diesen beiden
Generalklauseln. Mit Beginn seines Urlaubs startete er eine tägliche Tournee
durch alle Stadtteile und klingelte an Hunderten von Türen.
Hahn ergriff voll und ganz die
Initiative. Er setzte und besetzte die Themen des Wahlkampfs, konkretisierte
Vorstellungen, kanalisierte sie in Projekte und von da an blieb dem Mitbewerber
nur noch, staunend zuzuschauen und zu reagieren. Es waren ausschließlich Marius
Hahn und sein Team, die bis zum letzten Sonntag vorgaben, wo es im Wahlkampf
entlang ging.
Bei seinen Veranstaltungen holte
Hahn nicht den Cousin des Schwagers oder den Parteigenossen Vereinsvorsitzenden
an seine Seite, sondern hochkarätige Fachleute, die seinen Ideen Gewicht
verliehen.
Marius Hahn überrumpelte alle mit
seiner Vorstellung eines Kongresszentrums und griff sich damit kurzerhand das
Thema Wirtschaftsstandort Limburg und Förderung desselben. Seine Konzeption
eines Bürgerbüros degradierte den Versuch des NBM, dem unliebsamen Bewerber
sein Steckenpferd wegzunehmen, zu einem hilflosen Dilettieren mit einem
Legobaukasten. Die Hahn-Vision eines Hochschulstandorts Limburg fand Wiederhall
nicht nur in der überregionalen Presse, sondern ging sogar bis in den Landtag
und ist nun Gegenstand eines Antrags von SPD und FDP. Visionen eines Neumarkts
als Zentrum des lokalen Lebens faszinierten Geschäftsleute wie Bürger
gleichermaßen.
Mit jedem großen Auftritt wurde
Marius Hahn sicherer und mit jedem Beitrag konnte er die große Botschaft, die
er auf seine künstlerisch überragend gestalteten Überraschungsplakate der
zweiten Welle geschrieben hatte, besser vermitteln: Limburg den Bürgern
zurückgeben.
Parallel zu den Veranstaltungen
besuchte er weiter Wähler. Auf die häufig gestellte Frage, warum man von seinen
Vorstellungen, Projekten und Konzepten nie irgendwas in der Zeitung gelesen
hätte, antwortete er immer nüchtern: „Da müssen Sie die Zeitung selbst fragen“.
Die Redaktionen hatten zumindest von seinem Team alle Informationen erhalten.
Diese wiederkehrenden Aussagen und
die beharrliche Arbeit, die die Unterstützer persönlich, im Internet und bei
den immer besser besuchten Info-Ständen in der Fußgängerzone leisteten, zeigten
nach und nach Ergebnisse. Unter den Wählern machte sich ein immer größerer
Unmut über die einseitige und tendenziöse Berichterstattung bei gleichzeitigem
Boykott von Hahn breit. Im Leserbriefbereich der NNP tobte eine kleine Schlacht
zwischen den Anhängern beider Lager, doch bei den Limburgern hatte das Ansehen
der lokalen Zeitungen längst zu einem halsbrecherischen Sturzflug angesetzt.
Trotz dieser offenen Parteinahme
tat sich Erstaunliches und für die Presse Beunruhigendes. Marius Hahn
verwandelte sich in der öffentlichen Wahrnehmung vom „Wer-war-das-noch“ nicht
nur zu einem ernsthaften Kandidaten. Es ging noch einen großen Schritt weiter.
Nichts war mehr davon zu hören, die Wahl sei längst zugunsten des Mitbewerbers
entschieden. Inzwischen war nur noch die Rede davon, dass der Ausgang der Wahl
völlig offen sei.
„Jetzt glaubt sogar meine Mutter,
dass es was werden kann“, konnte Marius Hahn mit einem Lächeln vermelden.
Es nahte das große Finale und damit
die Zeit, in der sich traditionell die Nassauische Neue Presse offiziell
einmischt, um dann mit dem NNP-Forum beim abschließenden Schaulaufen der
Kandidaten das letzte Wort zu behalten.
Die Redaktionsleitung kündigte das
Verfahren an. Vier Berichte für jeden Kandidaten zu Veranstaltungen, die er
selbst auswählen durfte, eine Home-Story sowie ein Fragebogen an beide würde es
geben. Dazu das Forum und den zugehörigen Bericht, mehr nicht. Ganz wichtig
war, dass eine Woche vor der Wahl der Leserbriefbereich zu diesem Thema
geschlossen würde.
Die NNP selbst berichtete in dieser
Ankündigung von einem offenen Rennen. Den letzten 14 Tagen würde also einige
Bedeutung zukommen – und dem Verhalten der Nassauischen Neuen Presse.
Hatten viele Unterstützer nun
erwartet, dass die NNP hemmungslos zugunsten des Gegners berichten würde,
wurden sie überrascht. Zwar war die Home-Story des Kandidaten Hahn uninspiriert
und das Foto unvorteilhaft und die Berichte zu den Veranstaltungen vermieden
jede Erwähnung der extrem positiven Resonanz unter den Besuchern. Aber darüber
hinaus blieb die erwartete Parteinahme aus.
Einer der Höhepunkte der
Wahlkampagne von Marius Hahn war dann der Auftritt beim NNP Forum. Bestens
vorbereitet, durch nichts zu überraschen, jederzeit souverän und bei jeder
Antwort konkret, war er nach Ansicht vieler neutraler Beobachter der klare
Sieger des Abends.
Die Stimmung nach dem NNP-Forum
hatte weite Teile der Stadt erfasst und sie war gekippt. An vielen Orten war
nicht länger von einem Gleichstand die Rede. Für eine große Zahl an Menschen
lag Marius Hahn in Führung.
Am Tag nach dem NNP-Forum wagte ich
etwas. Ich schrieb auf eine Karte meine Wahlprognose, steckte sie in einen
Umschlag, den ich verschloss und schrieb darauf: Nicht vor Sonntag 20:00
öffnen.
Meine Zahlen waren zu diesem
Zeitpunkt: Michael Stanke: 43,8 %, Marius Hahn 56,2%.
Bis zum Mittwoch war für Marius
Hahn alles perfekt gelaufen.
Dann kam der Morgen des 11. Juni
und die potentielle Katastrophe.
Auf meine Frage hin, was für ihn der
schlimmste Moment des ganzen Wahlkampfs gewesen sei, antwortete Marius Hahn,
das sei der Augenblick gewesen, an dem er von den mit Aufklebern verunstalteten
Plakaten erfuhr und ihm durch den Kopf zuckte: „Jetzt ist alles kaputt. Das
war’s.“
Es gehört ganz sicher zu den
Highlights des an Attraktionen wirklich nicht armen Wahlkampfs von Marius Hahn,
wie er mit dieser Situation umging. Statt panischer Reaktionen blieb man
besonnen. Die Wählerinitiative erstattete Anzeige, Hahn erklärte wie sehr er
eine solche Aktion verabscheute, schlug seinem Kontrahenten mehrfach eine
gemeinsame Presseerklärung vor, die dieser brüsk ablehnte – und weder Hahn noch
seine Anhänger gingen auf die zum Teil ganz direkt erhobenen Vorwürfe der
Urheberschaft der Plakatverunstaltung ein, die doch nur Hahn schaden konnte.
Das Resultat war bemerkenswert. Was
ganz offensichtlich als großer Coup mit explosivem Charakter geplant war, wurde
zu einem feuchten Knallfrosch. Es puffte und funkte ein, zweimal müde – und das
war’s.
Eine letzte, verzweifelte Aktion
mit einem Flugblatt seitens des Gegners kam noch, doch auch hier gelang dem
Hahn-Team ein Konter, der die Gegenseite auf dem völlig falschen Fuß erwischte.
Wie aus dem inneren Kreis des anderen Kandidaten zu hören war, hätte kein Mensch
im Traum jemals daran gedacht, dass das Hahn-Lager es fertigbringen würde, noch
am Samstag mit einem brillant formulierten Flugblatt zu kontern.
Den Wahltag läutete die Hahn-Truppe
schließlich mit dem Verteilen von Tausenden von Frühstücksbrötchen ein und
bildete damit den Abschluss eines Wahlkampfs, über den man sicher noch lange
reden wird.
Er war schlicht in jeder Hinsicht
überragend.
Für mich war es die überraschendste
und am perfektesten durchgeführte Werbekampagne, die ich jemals verfolgt habe.
Hut ab vor Marius Hahn und den
(dem?) Menschen, die/der diese Wahlkampfstrategie entwickelt und konsequent bis
zum Ende durchgezogen haben/hat.
Doch am faszinierendsten ist für
mich dabei, dass mit dieser Kampagne keinem einzigen Wähler Marius Hahn
„verkauft“ wurde.
Es ist etwas völlig anderes
passiert.
Es ist gelungen, die Menschen von
Marius Hahn zu überzeugen.
Das Umfeld
Von den im Stadtparlament
vertretenen Parteien und Gruppierungen hatte es die CDU theoretisch am
leichtesten, da sie ihren eigenen Kandidaten nominierte. Während des Wahlkampfs
fiel die CDU-Fraktion aber nicht besonders auf, bis auf einen Einzelnen, der
eine gewisse Präsenz zeigte und sich vor allem durch Aggressivität
auszeichnete.
Die SPD Limburg bekannte sich klar
zu Marius Hahn und unterstützte dessen Wahlkampf finanziell und logistisch.
Eine ganze Reihe von Parteimitgliedern war auch in der Wählerinitiative aktiv.
Rege zeigten sich die Jusos in der SPD, die mehrere Veranstaltungen zur Wahl
organisierten und durchführten.
Die FDP lud als erste beide
Kandidaten zu einem gemeinsamen Auftritt ein. Nach ihrer Wahlempfehlung pro
Hahn zeigte sich Marion Schardt-Sauer im Lauf der Zeit immer mehr öffentlich
und wandelte sich von einer Moderatorin zu einer begeisterten und überzeugten
Wahlkämpferin mit hoher Präsenz.
Durch den schon intern sehr
umstrittenen Beschluss, Stanke zu unterstützen, hatten die Grünen mehr mit den
Folgen dieser Empfehlung zu kämpfen, als mit dem zum Gegner erklärten Marius
Hahn. Nach der öffentlichen Debatte über die Wahlempfehlung, griffen die Grünen
nur in Person eines einzelnen Mandatsträgers noch einmal ein, der sich von den
Gerüchten nicht freimachen konnte, er strebe höchstselbst das Amt des Ersten
Stadtrats an. Über Teilnahme an Stanke-Wahlkampfveranstaltungen durch die
Grünen ist nichts bekannt.
Die Freie Wählergemeinschaft zeigte
sich auf die so bekannte Art in ihrer ganzen Verlässlichkeit und sprach sich
pro Stanke aus, nachdem der Vorsitzende dem Kandidaten Marius Hahn noch fest
zugesagt hatte, die FWG würde keine Empfehlung veröffentlichen. Nach dem
kleinen Coup zog sich die FWG aber wieder vollständig aus dem Geschehen zurück.
Von einer Wahlempfehlung der BZL
ist mir nichts bekannt.
Rein rechnerisch hätte demnach
Michael Stanke die Wahl klar gewinnen müssen, wären alle Wähler den Parteien
und Gruppierungen gefolgt, die sie in die Stadtverordnetenversammlung geschickt
hatten.
Das Ergebnis war bekanntlich ein
anderes und die Wahlempfehlungen hatten allem Anschein nach für die
Kommunalwähler nicht einmal den Charakter eines freundschaftlichen Rates.
Wie sah es aber mit anderen
Interessengruppen und auch einflussreichen Einzelnen aus, die zur
Meinungsbildung innerhalb von Limburg bisweilen beitragen?
Der Nochbürgermeister griff in den
Wahlkampf nicht direkt ein, zeigte sich auf keiner Wahlveranstaltung und sprach
auch keine Empfehlung aus. Nominell könnte dies seinem Status als Wahlleiter
geschuldet sein, den er kraft Amtes innehatte. Als solcher hatte er sich
neutral zu verhalten.
Der NBM versuchte jedoch trotzdem
massiv Einfluss zu nehmen. Er überließ gefühlte 90% aller öffentlichen Auftritte
ab der Nominierung dem Ersten Stadtrat.
Damit nicht genug. Wie aus gut
unterrichteten Kreisen zu erfahren ist, stellte er ganze Teile der öffentlichen
Verwaltung in den Dienst des Wahlkampfs von Michael Stanke. Hinter
vorgehaltener Hand beschwerten sich reihenweise Mitarbeiter der Verwaltung,
dass sie nicht mehr zu ihrer normalen Arbeit kämen, weil sie „Wahlkampftermine
für den Stanke“ machen müssten. Die gesamte Kreativität der Verwaltung wurde
operationalisiert, öffentliche Auftritte des Ersten Stadtrats in Massen zu
kreieren, über die dann die Pressestelle in Wort und Bild berichten musste.
Geradezu grotesk war die Situation,
als der CDU-Kandidat bei einer Verlegung von weiteren „Stolpersteinen“ in
städtischem Auftrag unterwegs war und dort auch der Kandidat Marius Hahn
auftrat, der in seiner Eigenschaft als zu der Zeit amtierender
Stadtverordnetenvorsteher anwesend war. Da es der Wahlwerbebauftragten wider
Willen (?) unmöglich war, Stanke alleine auf einem Foto zu verewigen, knipste
sie lediglich die Stolpersteine selbst – und unterschlug im Pressebericht
Anwesenheit und Wortbeitrag von Hahn.
Es war ein offenes Geheimnis im
Rathaus, dass dieses als die Wahlkampfzentrale für Stanke missbraucht wurde,
nur schwenkten die betroffenen Mitarbeiter maximal die Fahne der Limburger
Widerstandskämpfer: In der Tasche geballte Schwarze Faust auf schwarzem Grund.
Niemand wagte es, sich öffentlich
zu beschweren.
Die Industrie- und Handelskammer
wurde über die Stadt ebenfalls für den Wahlkampf operationalisiert. Um dem
Kandidaten Hahn sein Lieblingsthema Hochschule wegzunehmen, wurde über die IHK
eine Befragung von Mitgliedern zu einem Dualen Studium durchgeführt. Das
Ergebnis jedoch wurde nie veröffentlicht.
Einen Gesprächstermin mit Marius
Hahn, in dem er sein Programm und seine Ideen vorstellen wollte, lehnte die IHK
ab, weil man sich „neutral verhalten“ wolle.
Derlei Berührungsängste hatten die
Pallottiner und die Evangelische Gemeinde jedoch nicht, die sich gerne
anhörten, was Marius Hahn für die Zukunft Limburgs plante.
Auch die Kolpingfamilie zeigte
Interesse an der lokalen Politik und veranstaltete einen Gesprächsabend, zu dem
beide Bewerber eingeladen waren.
Genauso hielt es die
Bürgerinitiative gegen die Südumgehung.
Der Cityring lud Hahn und Stanke
ebenfalls zu unterschiedlichen Terminen ein, an denen sie dem Vorstand Rede und
Antwort standen. Der Cityring gab keine Empfehlung an seine Mitglieder heraus.
Doch es war auffällig, dass der Vorsitzende in der Schlussphase des Wahlkampfs,
als Marius Hahn die Nöte der Innenstadt zum Thema machte und Lösungen
präsentierte, eine hohe Präsenz und Interesse zeigte und auf Veranstaltungen
Hahns immer wieder das Wort ergriff und seine Darstellungen und Perspektiven
unterstützte.
Der Altstadtkreis äußerte sich zur
Bürgermeisterwahl offiziell nicht. Ein ehemaliger Vorsitzender war Mitglied der
Wählerinitiative und fiel anfangs durch kontraproduktive Beiträge auf, zog sich
dann aber zurück. Ein anderes, omnipräsentes Exvorstandsmitglied bot sich
wiederholt der Initiative an, aber man verzichtete dankend auf seine
(bezahlten) Dienste.
Überraschend war, dass die streng
konservative Vereinigung, die von gewissen lokalen „Politikerinnen“ als Sekte
mit großem Gefahrenpotential geoutet wurde, die Rotarier, den Kandidaten Marius
Hahn zu einem ihrer Treffen einluden, um mit ihm über die Stadtpolitik und
Perspektiven zu plaudern.
Von den örtlichen Unternehmen
mischten sich zwei ganz konkret in den Wahlkampf ein.
Ein alteingesessenes Geschäft für
Sport- und Outdoorbedarf spendierte dem Treiben eine humoristische Note und
ließ eine großformatige Karikatur anfertigen, die Hahn als aktiven Wanderer mit
vollem Rucksack und Stanke als staunenden kleinen Jungen neben Übervater NMB
zeigte.
Auch der Vorstandvorsitzende einer
lokalen Bau AG gab den Wahlkämpfer. In einer riesigen, privaten Anzeige
versuchte er darzulegen, warum Limburg einfach nur großartig dastünde und er
warnte vor Hahnschen Plänen und Verfahren. Diese Äußerung ließ er aber ganz
schnell wieder verschwinden, als er erkennen musste, in welch eklatantem
Widerspruch diese zu Aussagen stand, mit denen der von ihm geförderte Michael
Stanke einen Last-Minute-Feldzug versuchte.
Insgesamt lässt sich über das
Engagement von Limburger Institutionen und Vereinigungen sagen, dass sie sich
am Anfang des Wahlkampfs heraushielten, offenbar weil sie der allgemeinen
Stimmung folgten, dass Hahn sowieso keine Chance hätte und der den meisten
genehme und bequeme Kandidat ohne Zutun gewinnen würde.
Als der Urnengang näher rückte und
die Stimmung einen unerwarteten Umschwung nahm, wurden alle sehr vorsichtig.
Fast niemand wollte eindeutig Stellung beziehen und es wurden in flotter Folge
die Fühler in Richtung Hahn ausgestreckt, um erste Kontakte herzustellen. Denn
es sich mit einem Mann zu verderben, der plötzlich als Bürgermeister für
wenigstens die nächsten 6 Jahre ernsthaft zur Debatte stand, wollte keine
Organisation riskieren.
Einzig die Institution, die von
Gesetz wegen zur Neutralität verpflichtet war, hatte mal wieder die Zeichen der
Zeit nicht erkannt. Wie ich aus sicherer Quelle erfuhr, traf sich eine große
Runde von Abteilungsleitern der Stadtverwaltung am Vorabend der Wahl und stieß
schon einmal mit einem Gläschen Sekt auf den neuen Bürgermeister an: Michael
Stanke…