Sonntag, 5. April 2015

Kriminalitätsreport Limburger Altstadt (2)

KASSE MACHEN!

Ingeborg (Name geändert) schläft schlecht und hat Alpträume. In ihrem Laden in der Limburger Altstadt fühlt sie sich nicht mehr wohl. Sicher schon gar nicht. Bevorzugt hält sie sich im vorderen Teil des verwinkelten Fachwerkhauses auf. Denn von dort kommt sie am schnellsten zur Tür. 
Ingeborg leidet unter PTBS. Die Posttraumatische Belastungsstörung ereilt sehr oft Menschen, die Opfer einer Straftat wurden. 
Sie hatte gedacht, sie hätte sich gut abgesichert. In ihrem Geschäft, das über mehrere Etagen geht, hat sie überall Kameras angebracht, die praktisch alle Winkel einsehen. 
Bei ihren Vorsichtsmaßnahmen hatte sie nur an eins nicht gedacht: 
Was passiert, wenn ich einen Gauner erwische?
Ladendiebe richten bei den Geschäftsleuten der Limburger Altstadt jedes Jahr ganz erhebliche Schäden an. Doch eine viel größere Gefahr geht von den Gangstern aus, die sich mit derlei Kleinkram erst gar nicht abgeben. Skrupellosere Professionelle und auch Beschaffungskriminelle, die überhaupt nichts mehr zu verlieren haben, zielen auf viel lohnendere Beute: Bargeld. Ihnen geht es nicht um eine Tafel Schokolade. Ihnen geht es um die ganze Kasse. Gerne mitgenommen werden bei der Gelegenheit auch Geldbörsen aus den Sozialräumen, bevorzugt mit Kontokarten aller Art, um gleich am nächsten Geldautomaten noch einen draufzusetzen. Die Gestaltung der meisten Läden und der große Publikumsverkehr in der Limburger Altstadt bieten für diese Kassengreifer ein ideales Betätigungsfeld. Die Geschäftsfrauen, die oft genug alleine sind, müssen nur mit einem Kunden beschäftigt und abgelenkt sein – und schon schlägt der Täter zu. Die gewerblichen Unternehmer in Sachen Eigentumstransfer lassen sich dabei von Registrierkassen nicht weiter aufhalten. Sie kennen die Tastenkombinationen und auch die Notöffnungshebel aller Modelle. Wenn die Kasse erstmal klingelt, ist es bereits zu spät. Ein schneller Griff in die Scheinfächer und die Tageseinnahmen sind weg. Meistens kundschaften die Reiseverbrecher auf einem ersten Rundgang die lohnenden Objekte zunächst aus, um später zuzuschlagen, wenn genug Einnahmen abzugreifen sind. Häufig genug treten sie auch in Gruppen auf, bei denen ein Teil der Bande (meistens lautstark parlierende Weiblichkeit) ablenkt und an verschiedenen Stellen des Ladens nach Beratung/Anprobe/mehr verlangt und so für Verwirrung sorgt. Ist das Geld erst eingesackt, lässt das Interesse der Damen an den Waren dann schlagartig nach. In den letzten Wochen hat so eine Bande gleich drei Juweliere der Region heimgesucht, mit jeweils riesiger Beute.
Anziehend: Altstadt

Ingeborg ist keiner Bande zum Opfer gefallen. Bei ihr war es ein Alleintäter. Er versteckte sich zunächst in einem Winkel und schlich dann nach oben, was die Inhaberin aber über den Monitor sah. Im oberen Stockwerk hielt er sich nicht mit dem Laden auf, sondern drang gleich in den dort gelegenen Bürobereich ein und fing an zu wühlen.
Ingeborg hatte das Glück, dass zwei Kundinnen in Begleitung ihrer muskulösen Ehegatten waren. Diese eilten ihr zu Hilfe und schnappten sich den diebischen Hänfling im Obergeschoss, der angesichts der massiven Übermacht keinen Widerstand leistete, sondern nur alles abstritt („schhabnixgemacht“).
Ingeborg rief die Polizei. Diese erschien schließlich und nahm den einschlägig bekannten Täter fest. Nach einer Dreiviertelstunde.
Geschlagene 45 Minuten mussten die Geschäftsfrau und ihre mutigen Unterstützer auf obrigkeitliche Hilfe warten. Minuten alleine mit einem unberechenbaren Straftäter, die sich (ich kann das aus eigener Erfahrung bestätigen) anfühlen wie Stunden.
Besonders anziehend: Kasse voll
Das Gesetz schreibt in Hessen für Rettungsdienste eine Hilfsfrist von 10 Minuten vor. Innerhalb dieser Zeit müssen nach dem ersten Alarm Einsatzkräfte vor Ort sein.
Für Straftaten gibt es diese Vorschrift unglaublicherweise nicht! Während der Gesetzgeber keinerlei Probleme hat, dem Rettungswesen, für das praktischerweise Kommunen und Kreise zuständig sind, strenge Vorschriften aufzuerlegen, interessiert sich die hohe Politik für die Sicherheit der Bürger mitnichten. Polizei ist Ländersache und damit ist es am Land Hessen selbst, dafür zu sorgen, dass die Polizei personell und materiell so aufgestellt und ausgestattet ist, dass sie rechtzeitig vor Ort sein kann, wenn Hilfe dringend benötigt wird.
Das ist nicht der Fall. Ingeborgs unendliche Wartezeit ist nicht die Ausnahme, sie ist eher die Regel. Unlängst durfte ein durchgeknaller Junkie sich genau die gleiche Zeit in einem Laden in der Neustadt austoben und alles kurz und klein schlagen, bevor die ersten Uniformierten erschienen.
Sicherheitsbeauftragter der Altstadt
Die Polizei kann für diese untragbaren Zustände nichts. Die Leiter der Direktionen müssen um jeden zusätzliche(n) Mann/Frau kämpfen, ohne dass irgendetwas besser würde. Statt mehr werden es immer weniger Polizisten, die zur Verfügung stehen. Bei ständig wachsenden Bevölkerungszahlen sinkt die Zahl der Kräfte. Konkrete Angaben erhält man selbstredend auf Nachfrage keine. Aber wer die Sicherheitslage der letzten 30 Jahre beobachtet hat, muss feststellen, dass nicht neue Revier eröffnet, sondern immer mehr bestehende geschlossen werden. Immer weniger Vollzugskräfte müssen sich um immer mehr Menschen und Aufgaben in immer größeren Bereichen kümmern.
Wer in Limburg die 110 wählt, hat Glück, wenn er sofort jemanden an den Apparat bekommt. Oft genug muss er (im Lokalkolorit; „Hier werden Sie in Mundart bedient…“) hören: „Guten Taaach. Bitte legen Sie nischt auf. Sie haben dän Notruf der Politsai Limburg erraischt. Sie werden so schnell wie möglisch waider verbunden…“ "Möglich" ist ein sehr dehnbarer Begriff...
Für Ingeborg ist alles noch mal gut gegangen.
Sie hatte Glück. Es stand niemand mit der Axt vor ihr, während sie in der Warteschleife des Notrufs hing. Doch was bleibt, sind die Gedanken: Was wäre gewesen wenn? Wenn gerade niemand im Laden gewesen wäre? Wenn sie den Täter direkt erwischt hätte? Wenn sie ihm bei der Flucht im Weg gestanden hätte? Diese Fragen sind es, die ihr immer noch den Schlaf rauben.
Und nicht nur ihr.
Hiiiiilfeeeeeee!
Die Limburger Altstadt ist ein Idyll für den Tagesbesucher. Aber auch für Bewohner und Geschäftsleute. Unter den Ladeninhaber(innen) der einzelnen Gassen haben sich an den meisten Stellen Freundschaften und Gemeinschaften gebildet. Man trifft sich, man plaudert mit einander und man hat ein Auge auf die anderen. Nur, was tun, im Falle eines Falles? Das ist die große Frage, die sich inzwischen alle stellen. Die Geschäftsfrauen der Altstadt fühlen sich allein gelassen. Niemand sorgt für ihre Sicherheit. Die Polizei ist weit und zeitlich fern. Dazu kommt, dass gerade Ingeborgs Nachbarinnen sich fragen, wie sie im Notfall auf sich aufmerksam machen sollen? Eine Inhaberin versuchte es testweise mit einer Abschreckungssirene, wie man sie Frauen gerne verkauft. Doch das laute Gerät war auf der Straße im allgemeinen Lärm kaum zu hören und schon gar nicht als Hilfeschrei zu identifizieren oder zu orten.
Viele haben ein Pfefferspray neben der Kasse, doch das ist nicht zwingend erreichbar, wenn es gebraucht wird.
Die Frage „Was können wir tun, um uns zu schützen?“ konnte oder wollte ihnen bisher niemand beantworten.
Es bleibt ihnen nur die Hoffnung, „dass nichts passiert“.
Doch die Aussichten sind diesbezüglich eher schlecht.
Dem Beobachter drängt sich der Eindruck auf, dass Limburg ist in den letzten Jahren in den Fokus reisender Gangsterclans geraten ist. Nicht nur Autodiebesbanden haben Stadt und Kreis entdeckt, sondern auch organisierte Laden-Marder-Familien. Da das einzige, was Verbrecher in Limburg abschrecken könnte, ist der Highway-Cop aus Kunststoff ist, der vor einem Laden in der Fleischgasse steht (und der lustigerweise selbst schon mal geklaut wurde…). Also werden die  Banden wiederkommen, wie besagte Juweliersausnehmer gerade bewiesen haben. Je geringer die Gefahr ist, erwischt zu werden, desto attraktiver wird das Ziel, zu dem man gerne zurückkehrt. Und man wird Nichten, Neffen, Tanten und Onkels mitbringen, zum nächsten Beutezug in die Limburger Altstadt…

(Fortsetzung folgt)



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