Ingeborg (Name geändert) schläft
schlecht und hat Alpträume. In ihrem Laden in der Limburger Altstadt fühlt sie
sich nicht mehr wohl. Sicher schon gar nicht. Bevorzugt hält sie sich im
vorderen Teil des verwinkelten Fachwerkhauses auf. Denn von dort kommt sie am
schnellsten zur Tür.
Ingeborg leidet unter PTBS. Die
Posttraumatische Belastungsstörung ereilt sehr oft Menschen, die Opfer einer
Straftat wurden.
Sie hatte gedacht, sie hätte sich
gut abgesichert. In ihrem Geschäft, das über mehrere Etagen geht, hat sie
überall Kameras angebracht, die praktisch alle Winkel einsehen.
Bei ihren
Vorsichtsmaßnahmen hatte sie nur an eins nicht gedacht:
Was passiert, wenn ich
einen Gauner erwische?
Ladendiebe richten bei den
Geschäftsleuten der Limburger Altstadt jedes Jahr ganz erhebliche Schäden an.
Doch eine viel größere Gefahr geht von den Gangstern aus, die sich mit derlei
Kleinkram erst gar nicht abgeben. Skrupellosere Professionelle und auch
Beschaffungskriminelle, die überhaupt nichts mehr zu verlieren haben, zielen
auf viel lohnendere Beute: Bargeld. Ihnen geht es nicht um eine Tafel
Schokolade. Ihnen geht es um die ganze Kasse. Gerne mitgenommen werden bei der Gelegenheit
auch Geldbörsen aus den Sozialräumen, bevorzugt mit Kontokarten aller Art, um
gleich am nächsten Geldautomaten noch einen draufzusetzen. Die Gestaltung der meisten Läden und der große Publikumsverkehr in der Limburger Altstadt bieten für diese
Kassengreifer ein ideales Betätigungsfeld. Die Geschäftsfrauen, die oft genug
alleine sind, müssen nur mit einem Kunden beschäftigt und abgelenkt sein – und schon
schlägt der Täter zu. Die gewerblichen Unternehmer in Sachen Eigentumstransfer
lassen sich dabei von Registrierkassen nicht weiter aufhalten. Sie kennen die
Tastenkombinationen und auch die Notöffnungshebel aller Modelle. Wenn die Kasse
erstmal klingelt, ist es bereits zu spät. Ein schneller Griff in die Scheinfächer
und die Tageseinnahmen sind weg. Meistens kundschaften die
Reiseverbrecher auf einem ersten Rundgang die lohnenden Objekte zunächst aus,
um später zuzuschlagen, wenn genug Einnahmen abzugreifen sind. Häufig genug
treten sie auch in Gruppen auf, bei denen ein Teil der Bande (meistens
lautstark parlierende Weiblichkeit) ablenkt und an verschiedenen Stellen des
Ladens nach Beratung/Anprobe/mehr verlangt und so für Verwirrung sorgt. Ist das
Geld erst eingesackt, lässt das Interesse der Damen an den Waren dann
schlagartig nach. In den letzten Wochen hat so eine
Bande gleich drei Juweliere der Region
heimgesucht, mit jeweils riesiger Beute.
Anziehend: Altstadt |
Ingeborg ist keiner Bande zum
Opfer gefallen. Bei ihr war es ein Alleintäter. Er versteckte sich zunächst in
einem Winkel und schlich dann nach oben, was die Inhaberin aber über den
Monitor sah. Im oberen Stockwerk hielt er sich nicht mit dem Laden auf, sondern
drang gleich in den dort gelegenen Bürobereich ein und fing an zu wühlen.
Ingeborg hatte das Glück, dass
zwei Kundinnen in Begleitung ihrer muskulösen Ehegatten waren. Diese eilten ihr
zu Hilfe und schnappten sich den diebischen Hänfling im Obergeschoss, der
angesichts der massiven Übermacht keinen Widerstand leistete, sondern nur alles
abstritt („schhabnixgemacht“).
Ingeborg rief die Polizei. Diese
erschien schließlich und nahm den einschlägig bekannten Täter fest. Nach einer
Dreiviertelstunde.
Geschlagene 45 Minuten mussten
die Geschäftsfrau und ihre mutigen Unterstützer auf obrigkeitliche Hilfe
warten. Minuten alleine mit einem unberechenbaren Straftäter, die sich (ich kann
das aus eigener Erfahrung bestätigen) anfühlen wie Stunden.
Besonders anziehend: Kasse voll |
Das Gesetz schreibt in Hessen für
Rettungsdienste eine Hilfsfrist von 10 Minuten vor. Innerhalb dieser Zeit müssen nach
dem ersten Alarm Einsatzkräfte vor Ort sein.
Für Straftaten gibt es diese
Vorschrift unglaublicherweise nicht! Während der Gesetzgeber keinerlei Probleme
hat, dem Rettungswesen, für das praktischerweise Kommunen und Kreise zuständig
sind, strenge Vorschriften aufzuerlegen, interessiert sich die hohe Politik für
die Sicherheit der Bürger mitnichten. Polizei ist Ländersache und damit ist es
am Land Hessen selbst, dafür zu sorgen, dass die Polizei personell und
materiell so aufgestellt und ausgestattet ist, dass sie rechtzeitig vor Ort
sein kann, wenn Hilfe dringend benötigt wird.
Das ist nicht der Fall. Ingeborgs
unendliche Wartezeit ist nicht die Ausnahme, sie ist eher die Regel. Unlängst
durfte ein durchgeknaller Junkie sich genau die gleiche Zeit in einem Laden in
der Neustadt austoben und alles kurz und klein schlagen, bevor die ersten
Uniformierten erschienen.
Sicherheitsbeauftragter der Altstadt |
Die Polizei kann für diese
untragbaren Zustände nichts. Die Leiter der Direktionen müssen um jeden
zusätzliche(n) Mann/Frau kämpfen, ohne dass irgendetwas besser würde. Statt
mehr werden es immer weniger Polizisten, die zur Verfügung stehen. Bei ständig
wachsenden Bevölkerungszahlen sinkt die Zahl der Kräfte. Konkrete Angaben erhält
man selbstredend auf Nachfrage keine. Aber wer die Sicherheitslage der letzten
30 Jahre beobachtet hat, muss feststellen, dass nicht neue Revier eröffnet,
sondern immer mehr bestehende geschlossen werden. Immer weniger Vollzugskräfte
müssen sich um immer mehr Menschen und Aufgaben in immer größeren Bereichen kümmern.
Wer in Limburg die 110 wählt, hat
Glück, wenn er sofort jemanden an den Apparat bekommt. Oft genug muss er (im Lokalkolorit;
„Hier werden Sie in Mundart bedient…“) hören: „Guten Taaach. Bitte legen Sie
nischt auf. Sie haben dän Notruf der Politsai Limburg erraischt. Sie werden so
schnell wie möglisch waider verbunden…“ "Möglich" ist ein sehr dehnbarer Begriff...
Für Ingeborg ist alles noch mal gut
gegangen.
Sie hatte Glück. Es stand
niemand mit der Axt vor ihr, während sie in der Warteschleife des Notrufs hing.
Doch was bleibt, sind die Gedanken: Was wäre gewesen wenn? Wenn gerade niemand
im Laden gewesen wäre? Wenn sie den Täter direkt erwischt hätte? Wenn sie ihm
bei der Flucht im Weg gestanden hätte? Diese Fragen sind es, die ihr immer noch
den Schlaf rauben.
Und nicht nur ihr.
Hiiiiilfeeeeeee! |
Die Limburger Altstadt ist ein Idyll für den Tagesbesucher. Aber auch für Bewohner und Geschäftsleute. Unter den Ladeninhaber(innen) der
einzelnen Gassen haben sich an den meisten Stellen Freundschaften und
Gemeinschaften gebildet. Man trifft sich, man plaudert mit einander und man hat
ein Auge auf die anderen. Nur, was tun, im Falle eines Falles? Das ist die
große Frage, die sich inzwischen alle stellen. Die Geschäftsfrauen der Altstadt
fühlen sich allein gelassen. Niemand sorgt für ihre Sicherheit. Die Polizei ist
weit und zeitlich fern. Dazu kommt, dass gerade Ingeborgs Nachbarinnen sich
fragen, wie sie im Notfall auf sich aufmerksam machen sollen? Eine Inhaberin
versuchte es testweise mit einer Abschreckungssirene, wie man sie Frauen gerne
verkauft. Doch das laute Gerät war auf der Straße im allgemeinen Lärm kaum zu
hören und schon gar nicht als Hilfeschrei zu identifizieren oder zu orten.
Viele haben ein Pfefferspray
neben der Kasse, doch das ist nicht zwingend erreichbar, wenn es gebraucht
wird.
Die Frage „Was können wir tun, um
uns zu schützen?“ konnte oder wollte ihnen bisher niemand beantworten.
Es bleibt ihnen nur die Hoffnung,
„dass nichts passiert“.
Doch die Aussichten sind
diesbezüglich eher schlecht.
Dem Beobachter drängt sich der
Eindruck auf, dass Limburg ist in den letzten Jahren in den Fokus reisender
Gangsterclans geraten ist. Nicht nur Autodiebesbanden haben Stadt und Kreis
entdeckt, sondern auch organisierte Laden-Marder-Familien. Da das einzige, was
Verbrecher in Limburg abschrecken könnte, ist der Highway-Cop aus Kunststoff ist, der
vor einem Laden in der Fleischgasse steht (und der lustigerweise selbst schon
mal geklaut wurde…). Also werden die Banden wiederkommen, wie besagte Juweliersausnehmer
gerade bewiesen haben. Je geringer die Gefahr ist, erwischt zu werden, desto
attraktiver wird das Ziel, zu dem man gerne zurückkehrt. Und man wird Nichten,
Neffen, Tanten und Onkels mitbringen, zum nächsten Beutezug in die Limburger Altstadt…
(Fortsetzung folgt)
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