Persönlich habe ich sie nie
kennengelernt, wurde ihr nie vorgestellt und habe nie ein einziges Wort mit ihr
gewechselt. Ich habe sie sicher ab und zu gesehen und habe sie als eine
weißhaarige Dame in Erinnerung, die an einem Gehstock durch die Altstadt
wanderte und von vielen respektvoll gegrüßt wurde.
Indirekt hatte sie allerdings auf
den Verlauf meines Lebens und meine Zeit im Limburg einen wesentlichen
Einfluss. Sie war die Galionsfigur eines in einer Nacht- und Nebelaktion
fraktionsübergreifend gegründeten Vereins, dessen erklärtes Ziel war zu verhindern, dass das wunderbare
Limburger Schloss dem Besitz der Bürger (denen es damals gar nicht gehörte)
entrissen wurde und in die Hände eines undurchsichtigen (d. i. bösen) Fremden
fiel. Es fiel damals nicht, trotz schriftlicher Zusage des Eigentümers (Fiskus
des Landes Hessen). Heute bin ich sogar dankbar dafür, dass ich nicht die Verantwortung
für dieses immobile Monstrum bekam, das auch jedem zukünftigen Eigner die
Taschen leersaugen wird. Damals jedoch war die Geschichte rund um den Profanbau
auf dem Domfelsen meine erste Begegnung mit der Art von Politik, wie ich sie
als charakteristisch für Limburg kennenlernen sollte: Mauscheleien in dunklen
Hinterzimmern, Unaufrichtigkeit, reine Showveranstaltungen in Ausschüssen bei bereits abgekartetem Ergebnis und vor allem öffentliches Ankläffen eines
potentiellen Investors.
Aber das ist eine andere
Geschichte, die vielleicht ein andermal erzählt werden soll.
Hildegard Schirmacher wird mir trotz
des Mangels an persönlichen Begegnungen für immer in Erinnerung bleiben, weil
ich einen denkwürdigen Auftritt von ihr erleben durfte, bei dem den Teilnehmern
der Inszenierung gar nicht bewusst war, dass sie einen sehr interessierten
Zuschauer hatten.
Vier Jahr muss es her sein, da
wurde die Limburger Altstadt von einer verdächtigen Gruppe Menschen heimgesucht.
Keiner von ihnen hatte einen Betonkragen und/oder einen durchgeistigten Blick,
also war es keine Abordnung kirchlicher Natur. Die meisten der Anzugträger
waren gleichzeitig Mappenschlepper – und diese waren mit Hessenwappen bedruckt.
Die Buschtrommeln trommelten und die Stadtradios 1. und 2. Programm
berichteten: „Die schauen sich die Altstadt an.“ Und: „Es geht um’s Geld“.
Tatsächlich war es wohl ein Trupp
Ministerialer, Städtischer, Sachverständiger von unbekannten Gnaden sowie
Mitglieder des später berüchtigten „Gutachterausschusses“, die an den
verschiedensten Stellen der Altstadt herumstanden und mit den Fingern zeigten.
Auf Gebäude. Private Gebäude. Private, privat sanierte Gebäude. Am Ende des
großen Rundgangs fand sich die Gruppe auf dem Rossmarkt ein. Es war ein
Dienstag und es standen noch die Mülltonnen nach der Leerung herum und boten
sich offenbar als Behelfsschreibtische bzw. Ablagen an. So lagerte man also an
einer Stelle, von der keiner ahnte, wie exponiert sie war: Direkt unter meinen
Bürofenstern. Diese waren offen und ich hörte länger anhaltende Debatten, die
nichts mit dem üblichen Volksgemurmel der Touristengruppen zu tun hatten, die
immer hierher geführt werden und deren Besuch dann in dem obligatorischen,
kollektiven Gelächter endet, wenn der Stadtmärchenerzähler endlich auf mein
Firmenschild (Mord & Totschlag) gezeigt hat.
Sie wohnt hier nicht mehr... |
Dieses Mal war es anders, man
diskutierte weiter und weiter und ich ging ans Fenster, um mal nachzuschauen,
was da eigentlich los war. Und ich blieb. Stehen. Im Schatten. Und hörte mir
das mal an.
Nachdem irgendwer sich über die
Vorbildlichkeit der Sanierung meiner Häuser ausgelassen hatte und wie sehr
diese die östliche Altstadt bereicherten, kam man zum Thema. Es sei ja wohl
außer Frage, dass die Sanierung eine Wertsteigerung der Grundstücke bewirkt
hatte. Diese galt es nun von den Eigentümern einzukassieren. Darüber war man
sich einig und wollte nickend die Versammlung schließen. Doch da meldete sich
die weißhaarige Dame zu Wort und stellte die Frage aller Fragen. Sie wollte wissen,
wie man nun diese Wertsteigerung ermitteln wolle. Ja, das sei ganz einfach, also,
man werde den aktuellen Wert heute von dem Wert abziehen, den die Grundstücke
ohne die Sanierung hätten. Nicken, Brummen, Mappen schließen, Gehen wollen,
waren die Reaktionen. Nicht so bei Frau Dr. Sch.
Es entspann sich sinngemäß das
folgende Gespräch.
„Wie ermitteln Sie diesen Wert?
Den das Grundstück gehabt hätte, ohne Sanierung?“
„Ja, wir vergleichen einfach die
Daten.“
„Welche Daten?“
„Naja, Daten, die wir erheben.
Also was heute ist und was gewesen wäre. Ja, also, was nicht…“
„Was heißt das konkret?“
„Naja, also wir sammeln Werte für
jeden Bereich und die werden dann in ein Raster eingetragen und die Differenz…“
„Welche Werte?“
„Also, Noten. Sozusagen. Für Infrastruktur
und… Verkehr. Und… Ja, Bebauung und… Das sind ganz viele Daten, die da
einfließen und am Ende steht dann ein Wert.“
„Wie ermitteln Sie diese Daten?“
„Naja, also… Wir tragen da ein was
ist. Und was gewesen wäre, wenn… Ja, wenn nicht saniert worden wäre.“
„Und woher wollen Sie das wissen?“
„Naja… Also. Ja, sicher. Das ist…
Ja, das ist nicht ganz einfach. Da gibt es so ein Raster und da werden Werte
eingetragen und am Ende hat man… Ja. Die Differenz.“
„Ich frage noch mal konkret. Wie
wollen Sie heute bestimmen, was gewesen wäre, hätte es in den vergangenen 40
Jahren keine Sanierung gegeben?“
„Ja. Sicher. Aber wir müssen ja
mal, irgendwann… Das ist… Ja. Schwierig. Ganz schwierig.“
„Sie wissen es also selbst nicht?“
„Naja, da gibt es
Modellrechnungen und…“
„Das heißt, Sie legen die Werte
willkürlich fest?“
„…“
„Ist das so?“
„Naja, das kann man so nicht
sagen… Also… Nun, wenn Sie so fragen… Wenn Sie das so sehen… Also… Ja.“
Das war vor vielen Jahren. Die
große, alte Dame der Altstadtsanierung hat es damals ausgesprochen – und genau
so geschah es. Nach Vorgaben von ganz oben wurden angebliche Wertsteigerungen
(oder auch keine, ganz nach politischem Proporz und Besitzverhältnissen)
vollkommen willkürlich bestimmt.
Dr. Hildegard Schirmacher hat
damals versucht, für die Hauseigentümer der Altstadt zu sprechen. Man hat es
irgendwann widerwillig zur Kenntnis genommen – und ihre Worte dann völlig
ignoriert.
Nun ist die „Stimme der Altstadt“
verstummt. Und alle, die seinerzeit dabei waren, werden leugnen, dass eine
solche Debatte jemals stattgefunden hat. Damals, im Sommer, rund um die
Mülltonnen, auf dem Rossmarkt, vor dem Haus Nr. 13. Unter den Fenstern meines
Büros…
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