Samstag, 14. März 2015

Dr. Hildegard Schirmacher - eine einzige Begegnung



Persönlich habe ich sie nie kennengelernt, wurde ihr nie vorgestellt und habe nie ein einziges Wort mit ihr gewechselt. Ich habe sie sicher ab und zu gesehen und habe sie als eine weißhaarige Dame in Erinnerung, die an einem Gehstock durch die Altstadt wanderte und von vielen respektvoll gegrüßt wurde.
Indirekt hatte sie allerdings auf den Verlauf meines Lebens und meine Zeit im Limburg einen wesentlichen Einfluss. Sie war die Galionsfigur eines in einer Nacht- und Nebelaktion fraktionsübergreifend gegründeten Vereins, dessen erklärtes Ziel war zu verhindern, dass das wunderbare Limburger Schloss dem Besitz der Bürger (denen es damals gar nicht gehörte) entrissen wurde und in die Hände eines undurchsichtigen (d. i. bösen) Fremden fiel. Es fiel damals nicht, trotz schriftlicher Zusage des Eigentümers (Fiskus des Landes Hessen). Heute bin ich sogar dankbar dafür, dass ich nicht die Verantwortung für dieses immobile Monstrum bekam, das auch jedem zukünftigen Eigner die Taschen leersaugen wird. Damals jedoch war die Geschichte rund um den Profanbau auf dem Domfelsen meine erste Begegnung mit der Art von Politik, wie ich sie als charakteristisch für Limburg kennenlernen sollte: Mauscheleien in dunklen Hinterzimmern, Unaufrichtigkeit, reine Showveranstaltungen in Ausschüssen bei bereits abgekartetem Ergebnis und vor allem öffentliches Ankläffen eines potentiellen Investors.
Aber das ist eine andere Geschichte, die vielleicht ein andermal erzählt werden soll.
Hildegard Schirmacher wird mir trotz des Mangels an persönlichen Begegnungen für immer in Erinnerung bleiben, weil ich einen denkwürdigen Auftritt von ihr erleben durfte, bei dem den Teilnehmern der Inszenierung gar nicht bewusst war, dass sie einen sehr interessierten Zuschauer hatten.
Vier Jahr muss es her sein, da wurde die Limburger Altstadt von einer verdächtigen Gruppe Menschen heimgesucht. Keiner von ihnen hatte einen Betonkragen und/oder einen durchgeistigten Blick, also war es keine Abordnung kirchlicher Natur. Die meisten der Anzugträger waren gleichzeitig Mappenschlepper – und diese waren mit Hessenwappen bedruckt. Die Buschtrommeln trommelten und die Stadtradios 1. und 2. Programm berichteten: „Die schauen sich die Altstadt an.“ Und: „Es geht um’s Geld“.
Tatsächlich war es wohl ein Trupp Ministerialer, Städtischer, Sachverständiger von unbekannten Gnaden sowie Mitglieder des später berüchtigten „Gutachterausschusses“, die an den verschiedensten Stellen der Altstadt herumstanden und mit den Fingern zeigten. Auf Gebäude. Private Gebäude. Private, privat sanierte Gebäude. Am Ende des großen Rundgangs fand sich die Gruppe auf dem Rossmarkt ein. Es war ein Dienstag und es standen noch die Mülltonnen nach der Leerung herum und boten sich offenbar als Behelfsschreibtische bzw. Ablagen an. So lagerte man also an einer Stelle, von der keiner ahnte, wie exponiert sie war: Direkt unter meinen Bürofenstern. Diese waren offen und ich hörte länger anhaltende Debatten, die nichts mit dem üblichen Volksgemurmel der Touristengruppen zu tun hatten, die immer hierher geführt werden und deren Besuch dann in dem obligatorischen, kollektiven Gelächter endet, wenn der Stadtmärchenerzähler endlich auf mein Firmenschild (Mord & Totschlag) gezeigt hat.
Sie wohnt hier nicht mehr...
Dieses Mal war es anders, man diskutierte weiter und weiter und ich ging ans Fenster, um mal nachzuschauen, was da eigentlich los war. Und ich blieb. Stehen. Im Schatten. Und hörte mir das mal an.
Nachdem irgendwer sich über die Vorbildlichkeit der Sanierung meiner Häuser ausgelassen hatte und wie sehr diese die östliche Altstadt bereicherten, kam man zum Thema. Es sei ja wohl außer Frage, dass die Sanierung eine Wertsteigerung der Grundstücke bewirkt hatte. Diese galt es nun von den Eigentümern einzukassieren. Darüber war man sich einig und wollte nickend die Versammlung schließen. Doch da meldete sich die weißhaarige Dame zu Wort und stellte die Frage aller Fragen. Sie wollte wissen, wie man nun diese Wertsteigerung ermitteln wolle. Ja, das sei ganz einfach, also, man werde den aktuellen Wert heute von dem Wert abziehen, den die Grundstücke ohne die Sanierung hätten. Nicken, Brummen, Mappen schließen, Gehen wollen, waren die Reaktionen. Nicht so bei Frau Dr. Sch.
Es entspann sich sinngemäß das folgende Gespräch.

„Wie ermitteln Sie diesen Wert? Den das Grundstück gehabt hätte, ohne Sanierung?“
„Ja, wir vergleichen einfach die Daten.“
„Welche Daten?“
„Naja, Daten, die wir erheben. Also was heute ist und was gewesen wäre. Ja, also, was nicht…“
„Was heißt das konkret?“
„Naja, also wir sammeln Werte für jeden Bereich und die werden dann in ein Raster eingetragen und die Differenz…“
„Welche Werte?“
„Also, Noten. Sozusagen. Für Infrastruktur und… Verkehr. Und… Ja, Bebauung und… Das sind ganz viele Daten, die da einfließen und am Ende steht dann ein Wert.“
„Wie ermitteln Sie diese Daten?“
„Naja, also… Wir tragen da ein was ist. Und was gewesen wäre, wenn… Ja, wenn nicht saniert worden wäre.“
„Und woher wollen Sie das wissen?“
„Naja… Also. Ja, sicher. Das ist… Ja, das ist nicht ganz einfach. Da gibt es so ein Raster und da werden Werte eingetragen und am Ende hat man… Ja. Die Differenz.“
„Ich frage noch mal konkret. Wie wollen Sie heute bestimmen, was gewesen wäre, hätte es in den vergangenen 40 Jahren keine Sanierung gegeben?“
„Ja. Sicher. Aber wir müssen ja mal, irgendwann… Das ist… Ja. Schwierig. Ganz schwierig.“
„Sie wissen es also selbst nicht?“
„Naja, da gibt es Modellrechnungen und…“
„Das heißt, Sie legen die Werte willkürlich fest?“
„…“
„Ist das so?“
„Naja, das kann man so nicht sagen… Also… Nun, wenn Sie so fragen… Wenn Sie das so sehen… Also… Ja.“

Das war vor vielen Jahren. Die große, alte Dame der Altstadtsanierung hat es damals ausgesprochen – und genau so geschah es. Nach Vorgaben von ganz oben wurden angebliche Wertsteigerungen (oder auch keine, ganz nach politischem Proporz und Besitzverhältnissen) vollkommen willkürlich bestimmt.
Dr. Hildegard Schirmacher hat damals versucht, für die Hauseigentümer der Altstadt zu sprechen. Man hat es irgendwann widerwillig zur Kenntnis genommen – und ihre Worte dann völlig ignoriert.
Nun ist die „Stimme der Altstadt“ verstummt. Und alle, die seinerzeit dabei waren, werden leugnen, dass eine solche Debatte jemals stattgefunden hat. Damals, im Sommer, rund um die Mülltonnen, auf dem Rossmarkt, vor dem Haus Nr. 13. Unter den Fenstern meines Büros…

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